Gratifikationskrisenmodell: Das solltest du wissen

Gratifikationskrisenmodell von Siegrist
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Das Gratifikationskrisenmodell von Siegrist im Überblick

Auf den Begriff der Gratifikationskrise stoßen viele Menschen im Laufe ihrer beruflichen Karriere, ohne dabei zu wissen, ob sie selbst betroffen sind oder worum es sich dabei eigentlich handelt. Bei uns erfährst du, wie das Gratifikationsmodell genau aussieht, was es besagt und unter welchen Bedingungen es zur Gratifikationskrise kommen kann. Zudem geben wir einige konkrete Beispiele für das Auftreten und stellen einige Tipps zur Prävention zur Verfügung. Auf diese Weise wird es dir möglich sein, dieses Stressmodell nicht nur besser zu verstehen, sondern bei dir selbst oder auch dir nahestehenden Personen rechtzeitig zu handeln, wenn dies notwendig sein sollte.

Worum genau handelt es sich bei dem Gratifikationsmodell?

Der Schweizer Medizinsoziologe Johannes Siegrist veröffentlichte im Jahr 2015 ein Buch zu dem Thema „Arbeitswelt und stressbedingte Erkrankungen“ in dem er zum ersten Mal den Ausdruck Gratifikationskrise postulierte. Dabei fasste er mithilfe einer umfassenden Übersicht internationale Studien zusammen, die sich mit der Frage beschäftigten, wie sich berufliche Überforderung auf die Gesundheit der Arbeitnehmer auswirken kann. Zudem entwickelte Siegrist einen Fragebogen, mit dessen Hilfe man Gratifikationskrisen erkennen kann und dieser ist mittlerweile in vielen verschiedenen Sprachen verfügbar.
Bei dem Gratifikationskrisenmodell handelt es sich also in erster Linie um ein Modell, das vor allem in der Arbeitswelt zum Einsatz kommt und mit dessen Hilfe festgestellt werden kann, ob die berufliche Laufbahn eines Menschen negative Folgen auf dessen psychische Gesundheit hat.

Besonders betroffene Berufe

Es hat sich gezeigt, dass besonders Menschen in das Gratifikationskrisenmodell fallen, die in einem Beruf arbeiten, in dem man eine geringe Qualifikation benötigt. Diese Jobs sind nämlich zum einen körperlich sehr fordernd, die Arbeitnehmer erhalten jedoch im Gegenzug zu der erbrachten Leistung eine sehr geringe Entlohnung. Zudem sind diese Berufe in der Gesellschaft häufig wenig anerkannt, weshalb auch die Wertschätzung der Mitmenschen ausbleibt.

Zu einer Gratifikationskrise kann es also dann kommen, wenn eine Person sehr viel Einsatz in Form von Zeit, Engagement, Leistung oder auch Wissen erbringt, ohne Belohnung in Form von Lohngerechtigkeit, einem sicheren Arbeitsplatz, Aufstiegsmöglichkeiten oder Weiterbildungsmöglichkeiten. Doch was genau passiert in diesem Fall laut Gratifikationskrisenmodell?

Was geschieht im Falle einer Gratifikationskrise genau?

Möchte man das von Siegrist erstellte Gratifikationskrisenmodell mithilfe eines Bildes veranschaulichen, so kann zu diesem Zweck eine herkömmliche Waage herangezogen werden, die mit zwei Schalen ausgestattet ist. Wie du bestimmt weißt, ist eine solche Waage nur dann im Gleichgewicht, wenn sich in beiden Schalen entweder gar nichts befindet oder die Lasten beidseitig exakt gleich schwer sind. Im Idealfall sollte es laut Gratifikationskrisenmodell so aussehen, dass sich in der einen Schale die Leistung befindet, die eine Person in ihrem Erwerbsleben erbringt und in der anderen Schale die Belohnung, die sie für diese erhält und beide Seiten im Gleichgewicht sind.

Gratifikationskrisenmodell
Gratifikationskrisenmodell nach Siegrist

Extrinsische und intrinsische Faktoren

Nun kann es jedoch aufgrund extrinsische als auch intrinsische Faktoren auf der Seite der Leistung passieren, dass diese viel stärker belastet wird und sich das gesamte System plötzlich nicht mehr im Gleichgewicht befindet. Unter dem Begriff der extrinsischen Faktoren werden dem Gratifikationskrisenmodell zufolge äußere Einflüsse. wie zum Beispiel starker Zeitdruck, viele Überstunden, ein schlechtes Kollegium sowie eine besonders hohe Arbeitsbelastung verstanden. Unter den sogenannten intrinsischen Faktoren sind hingegen alle Einflüsse zu verstehen, die von der besagten Person selbst kommen wie ein sehr großes Streben nach Perfektionismus, ein selbst auferlegter Leistungsdruck oder krankhafter Ehrgeiz.
Können diese Faktoren laut Gratifikationskrisenmodell durch die andere Seite der Waage und somit durch Belohnungen, wie zum Beispiel Anerkennung durch den Chef, Kollegen oder die Gesellschaft, eine angemessene Bezahlung oder auch Aufstiegsmöglichkeiten ausgeglichen werden, kann es früher oder später zu eine Krise kommen.

Ein ganz entscheidender Punkt ist hierbei, dass die Belohnung von dem jeweiligen Arbeitnehmer wirklich als solche wahrgenommen werden muss, um ihre Wirkung nicht zu verfehlen. An genau diesem Punkt kommt es häufig zu Missverständnissen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, denn während ersterer glaubt, seinen Angestellten ausreichen Wertschätzung entgegenzubringen, kann dies auf der anderen Seite ganz anders wahrgenommen werden. Unter dem Begriff Gratifikation wird daher jede Form der Anerkennung zusammengefasst, die auch wirklich als solche aufgefasst und verstanden wird.

Das Auftreten der der Krise laut Gratifikationskrisenmodell und ihre Folgen

Siegrist hat sich selbstverständlich auch mit der Frage beschäftigt, wie lange Menschen einem solchen Ungleichgewicht ausgesetzt sein müssen, damit es zum Auftreten besagter Krise kommt. Hier hat sich gezeigt, dass es sich im Normallfall schon um einen längeren Zeitraum handelt, der sich sogar über mehrere Jahre erstrecken kann. Musst du also aus welchen Gründen auch immer einen Job annehmen, für den du eigentlich überqualifiziert bist, wirst du schlecht bezahlt und vielleicht auch niemals gelobt und das obwohl du dein bestes gibt, kann es passieren, dass deine innere Waage aus dem Gleichgewicht gerät. Das Gratifikationskrisenmodell besagt, dass diese Situation solange anhält, bis es diese nicht mehr als solche einfach hingenommen wird, es zu einer Handlungsalternative kommt beziehungsweise innere Muster wie Überengagement durchbrochen werden können.

Psychische und physische Auswirkungen

Die Folgen eines solchen Zustandes sollten dem Gratifikationskrisenmodell zufolge jedoch keinesfalls auf die leichte Schulter genommen werden. Dieser kann nämlich starke Auswirkungen auf die psychische aber auch physische Gesundheit betroffener Personen haben.
So hat sich dank Anwendung des Gratifikationsmodell gezeigt, dass Menschen, die unter einem solchen beruflichen Ungleichgewicht zu leiden haben ein weitaus höheres Risiko aufweisen, eine chronische Krankheit zu erleiden. Tatsächlich verdoppelt sich die Wahrscheinlichkeit einer Depression, der Entstehung von Herzerkrankungen sowie anderer schwerer körperlicher und seelischen Leiden, wenn es zu einer Gratifikationskrise kommt und diese über einen längeren Zeitraum hinweg nicht überwunden wird.

Das ist auch der Grund, warum sich immer mehr Arbeitgeber gezielt dafür einsetzen, dem Auftreten eines solchen Ungleichgewichtes bei ihren Angestellten entgegenzuwirken. Welche Präventionsmaßnahmen in diesem Zusammenhang getroffen werden können, erfährst du gleich. Zunächst wollen wir aber noch einmal die Faktoren, die laut Gratifikationskrisenmodell dazu beitragen können, dass eine solche Krise auftritt, zusammenfassen.

Frustrierter Mitarbeiter
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Bedingungen, unter denen es zu einer beruflichen Gratifikationskrise kommen kann:

• eine Person verfügt über eine relativ niedrige Qualifikation und erhält keine Möglichkeit, sich fortzubilden
• es wird über Jahre hinweg eine monotone Arbeit beziehungsweise eine kontinuierliche Akkordarbeit ausgeführt
• alles muss unter sehr hohem Zeitdruck erledigt werden, Überstunden stehen aber dennoch an der Tagesordnung
• Nachtschichten beziehungsweise ständig wechselnde Schichtzeiten sind normal
• es gibt kaum oder gar keine Möglichkeiten, sich beruflich weiterzuentwickeln oder aufzusteigen
• die Arbeitsplatzsituation ist unsicher und man muss vielleicht sogar einen unfreiwilligen Wechsel des Arbeitsplatzes in Kauf nehmen, um die Arbeit nicht zu verlieren
• die Entlohnung entspricht bei weitem nicht der Leistung und die Person hat trotz Vollzeitbeschäftigung Probleme, mit dem Gehalt auszukommen

Der Fragebogen zur Erfassung der beruflichen Situation im Gratifikationskrisenmodell

Wie bereits erwähnt, steht ein umfassender Fragebogen zur Verfügung, mit dessen Hilfe man nachweisen kann, ob bereits eine Gratifikationskrise vorherrscht oder das Risiko einer solchen besteht. Der Fragebogen umfasst in seiner Kurzform 23 verschiedene Items und kann innerhalb von fünf bis sieben Minuten ausgefüllt werden. Die Beantwortung der Fragen findet anonym und direkt am Computer statt. Hierdurch erhält man die Auswertung ebenfalls in weniger als fünf Minuten.
Um präventive Maßnahmen zu eruieren und somit dem Auftreten des Ungleichgewichts im Beruf vorzubeugen, sammelte und analysierte man über Jahre hinweg anonymisierte Daten durch das Gratifikationskrisenmodell. Es zeigte sich, dass in verschiedenen europäischen Ländern vor allem bestimmte Berufsgruppen betroffen sind, wie zum Beispiel Krankenpflegepersonal, Busfahrer oder auch Verwaltungsangestellte.

Folgende Präventionsmaßnahmen können laut Gratifikationskrisenmodell das Auftreten einer Krise verhindern:

• Stressmanagement- Training für die Angestellten
• Regelmäßige Feedback-Gespräche mit dem Vorgesetzten
• ein anonymer Evaluierungsbogen, mit dessen Hilfe man Probleme und Konflikte innerhalb der Firma aufdecken kann
• Ein Angebot von Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten sollte vorhanden sein
• Mögliche Erweiterung des Handlungsspielraumes der einzelnen Arbeitsplätze
• Angestellter mehr Verantwortung übernehmen möchte

Fazit

Das Gratifikationskrisenmodell von Siegrist kann umfassend dazu beitragen, die psychische und physische Gesundheit der eigenen Mitarbeiter zu bewahren. So kann für ein besseres Arbeitsklima geschaffen werden. Natürlich liegt es jedoch in der Verantwortung eines jeden einzelnen zu erkennen, wenn sich die eigene innere Waage nicht mehr im Gleichgewicht befindet und man darunter zu leiden beginnt. In diesem Fall können sowohl die Nutzung der angebotenen Präventivmaßnahmen zu einer Verbesserung der Situation führen, falls diese vorhanden sind, als auch ein offenes Gespräch mit dem Vorgesetzten. Sind all diese Möglichkeiten ausgeschöpft und es ist zu keiner signifikanten Verbesserung gekommen, ist in vielen Fällen ein Jobwechsel die letzte Möglichkeit, um die Gratifikationskrise dauerhaft zu lösen.